Utopie vs. Krisenverwaltung

von Roland Vossebrecker

Krisen überall, Krise des Bildungssystems, Krise des Gesundheitssystems, Coronakrise, Ukrainekrise, „Flüchtlingskrise“ – eigentlich eine Krise der Humanität, Krise der Demokratie und über allem die Krise des Artensterbens und die Klimakrise.

Unsere Wahrnehmung ist durch multiple Krisen geprägt, die so herausfordernd sind, dass sich ein Pessimismus breit macht, wie er vor 12 oder 15 Jahren noch undenkbar war.

Auch die Politik agiert im Dauerkrisenmodus und versucht mit kleinen und kleinsten Schritten mehr schlecht als recht die Krisen zu verwalten. Was ihr dabei gänzlich abhandengekommen ist, das ist der Wille zur Gestaltung einer besseren Zukunft. Keine der demokratischen Parteien hat zurzeit ein anschlussfähiges, ein begeisterndes Angebot. Die einzige Partei, die ihren Anhänger*innen eine Utopie anbietet, ist – die AfD. Eine widerliche und menschenverachtende, aber für ihre Anhänger*innenschaft eben eine verlockende Utopie einer homogenisierten deutschen Gesellschaft. (Dass die AfD durch und durch verlogen und korrupt ist, und solche Ideen schon einmal die Menschheit in Weltkrieg und Holocaust gestürzt hat, ist richtig aber nicht Gegenstand diese Artikels)

Was fehlt, das ist ein positiver Gegenentwurf zu Ausgrenzung, Nationalismus und Egoismus. Denn wofür stehen die anderen Parteien?

Die Union für soziale Kälte, und sie hat damit erstaunlicherweise auch noch relativen Erfolg, die FDP für eine schamlose Klientelpolitik zugunsten Reicher und Superreicher und für die „Freiheit“, ohne Tempolimit das Klima zu ruinieren. Die SPD steht für – äh – ja, wofür eigentlich? Doppelwumms? Wie peinlich darf Politik eigentlich sein?

Die Linke nehme ich hier erst einmal raus. Ob es ihr gelingt, sich nach dem Abgang des BSW-Ballastes noch mal neu zu erfinden als eine Partei echter Klimagerechtigkeit, oder ob sie in der Bedeutungslosigkeit einer 2-%-Partei untergeht, ist eine offene Frage.

Und die Grünen? Tja, die stehen für Klimaschutz. Aber mal ehrlich: Wie langweilig ist das denn?

Klimaschutz, das ist Wärmepumpe, Ladesäuleninfrastruktur, Gebäudeenergiegesetz, Elektromobilität.  Alles nicht grundsätzlich falsch, aber wer soll sich dafür begeistern? Die Idee von Gerechtigkeit bleibt dabei auf der Strecke, denn wenn man ständig „Klimagerechtigkeit“ und „unseren (!) Wohlstand bewahren“ in einem Atemzug aufsagt, zeigt das nur, dass entweder nicht begriffen oder nicht der Mut dafür aufgebracht wird, einzugestehen, dass unser Wohlstand alles andere als gerecht ist.

Aber es könnte auch alles ganz anders sein.

Welche Kraft würde es entfalten, wenn eine Partei den Mut hätte, einen Entwurf für eine (Klima-)gerechte Gesellschaft vorzulegen und sich konsequent daran zu orientieren.
Für eine Politik, die Menschenrechte als oberstes Leitbild verfolgt.
Für eine Gesellschaft, in der Wohlstand und demokratische Teilhabe wirklich gerecht verteilt wäre.
Eine Utopie einer nachhaltigen, zukunftsfähigen, global gerechten Gesellschaft, die nicht an den Symptomen der Krisen herumdoktern, sondern ihre Ursachen beseitigen will.
Eine Idee von Freiheit, die nicht als schrankenloser Egoismus ausgelebt, sondern verantwortungsvoll und solidarisch verstanden wird.
Ein neues Verständnis von Wohlstand, das nicht Luxus und Überfluss für wenige verspricht, sondern genügsam und gerecht ist.
Ein Angebot des guten Lebens für alle, für wirklich Alle!

Ja, natürlich würde eine solche Partei nicht sofort Wahlen und absolute Mehrheiten gewinnen. Aber unzählige Menschen warten sehnsüchtig auf ein solches politisches Angebot *1, für dass es sich wirklich lohnt zu kämpfen, sich einzubringen und sich zu engagieren.

Und diese Utopien muss man nicht erst erfinden, sie liegen längst vor, ausgedacht von vielen klugen und engagierten Menschen, NGOs und Initiativen.

Unsere Demokratie funktioniert so, dass auch die Opposition Politik mit gestalten und prägen kann, und das ist im Prinzip auch sehr gut so. Aktuell ist es aber gerade die AfD, die die anderen Parteien in der Migrationsfrage vor sich hertreibt. Man überbietet sich in unfreundlichen bis unmenschlichen Maßnahmen gegen Geflüchtete in der Angst, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit könnten die Rechtsextremen stärken. Wie absurd! Rechte Ideologie bekämpft man nicht mit rechter Politik!

Stellen wir uns den Spieß aber mal umgedreht vor: Eine (klima-)gerechte Partei, die sich an die Spitze gesellschaftlichen Wandels setzt und aus der Opposition heraus etablierte Politik vorantreibt, indem sie immer wieder konsequent Gerechtigkeit einfordert. Welch unglaubliches Potential für die notwendige Transformation läge darin?! Welche Begeisterung würde dies entfachen bei all jenen, die die Zeichen der Zeit verstanden haben.

Mir wird an diesem Punkt oft entgegen gehalten, das sei nur meine „Blase“. Ja, ok, aber hey, die ist groß!

Wenn sich jetzt eine bestimmte Partei besonders angesprochen fühlt, dann ist das weder zufällig noch unbeabsichtigt!

Da sich aber am politischen Horizont nirgends etwas ähnliches abzeichnet, bleibt es weiter bei uns, den vielen zivilgesellschaftlichen Gerechtigkeits-Initiativen, den Wandel zu gestalten und vorauszuleben.

*1 Ich habe Teile dieses Artikels während einer Bahnfahrt geschrieben. Als ich den Satz notiert hatte, von den vielen, die ein solches Angebot erwarten, hörte ich zufällig, dass die beiden älteren Herren hinter mir sich genau darüber unterhielten. Als ich sie daraufhin ansprach, sagte mir einer von Ihnen: „Mittlerweile fühle ich mich politisch heimatlos…“

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