
Wald
von Tabea Schünemann
Jeden Tag sehe ich ein Stück Wald. Wie die Sonnenstrahlen sich ihren Weg durch die Kronen bahnen und auf saftiges Moos am Boden treffen. Wie Nebelschwaden durch junge grüne Zweige ziehen.
Jeden Tag sehe ich denselben Wald.
Es ist der Wald, den mein MacBook mir als Desktop-Hintergrund vorgeschlagen hat, als Abwechslung zu einer Berglandschaft, hinter der ab einer gewissen Uhrzeit sich sogar das Licht automatisch ändert.
Künstlich erzeugte Natur.
Vielleicht Ausdruck einer Sehnsucht, das sich hinter all den Word-Dokumenten und Netflixserien doch noch etwas birgt, das daran erinnert, dass wir auf einer Erde leben.
Nicht, weil Word-Dokumente und Netflixserien weniger real wären.
Ich bin auch wirklich nicht Typ Bäume-Umarmen und Kräutersammeln.
Aber ich finde es schon erschreckend, dass ich nicht alles erkenne, was meine Mitbewohnerin gerade an regionalem Wintergemüse aus der solidarischen Landwirtschaft mitbringt. Was um alles in der Welt kocht man mit Pastinaken???
Und dann stehe ich hier, vor mir ein Wald aus toten Bäumen im Umland von Leipzig. Hier wird der Weg plötzlich abschüssig, dort, wo damals die Kante zum Kohletagebau war, inzwischen wieder aufgeschüttet und aufgeforstet, aber erfolglos. Malerische Seen mit Ferienhäusern und Segelbooten sind nun dort, wo sich einmal die Krater der Kohle bis an den Stadtrand erstreckten. Ein Briefkasten in der Mitte des Sees erinnert an die Dörfer, die hier weggebaggert wurden. Von hier kann man Briefe mit Stempeln aus jenen Dörfern abschicken.
Erschöpft sieht sie aus, die Natur, im Sinne des Wortes. Alles ausgeschöpft, alles aus der Erde geholt und verbrannt – für immer. Die Wunden sind nicht zu kaschieren, auch die gesundheitlichen Schäden für die Menschen in der Nachbarschaft der Zerstörung nicht oder die Trauer über den Verlust von Heimat.
Es braucht gar nicht viele Worte, nur diese Begegnung mit diesem sichtbar ausgebeuteten Stück Land und plötzlich empfinde ich so etwas wie Mitgefühl. Fast kann ich das hören, was die Bibel das “Seufzen der Erde” nennt. Psycholog*innen sprechen von “Solastalgie”, die Trauer im Angesicht der Zerstörung unserer Erde. Trauer um den Verlust unserer Heimat.
Ja, ich bin traurig. Aber fühle mich auch plötzlich verbunden mit der Natur, ganz unromantisch.
Viel mehr als durch meinen Desktophintergrund.
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